„Hoffnungslosigkeit können wir uns in diesen Tagen nicht leisten.“ Mit diesem Appell gegen Fatalismus, Angst und Verzweiflung gab Dr. h.c. Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Präses der evangelischen Kirche von Westfalen, eine Antwort auf die aktuellen Krisen. Die renommierte Theologin sprach am Montagabend bei einer Veranstaltung von Westfalen e.V. vor über 100 Zuhörerinnen und Zuhörern, im Plenarsaal des Landeshauses des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zum Thema „Eine Zeitansage in Krieg und Krise: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne“.
Die Präses zeichnete in ihrem Vortrag ein differenziertes Bild über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, der sie ein „Recht auf Selbstverteidigung“ zusprach, aber gleichzeitig dafür warb, aus der „Logik des Gewinnens und Verlierens, von Sieg und Niederlage“ auszusteigen. „Es gibt kein eindeutiges Richtig oder Falsch“, befand die EKD-Ratsvorsitzende zu den Waffenlieferungen an die Ukraine. „Waffen sind nie eine Lösung.“ Und: „Verteidigung und Nothilfe sind nur für Recht und Frieden einsetzbar“, grenzte sich die Rednerin scharf von der Haltung des Vorstehers der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I., ab, der den Angriffskrieg Putins auf das Nachbarland unterstützt. Gott dürfe „nicht vor den eigenen Karren gespannt“ werden, das sei „Gotteslästerung“, betonte Annette Kurschus. Gleichwohl dürfe die russisch-orthodoxe Kirche nicht aus dem in Kürze in Karlsruhe tagenden Ökumenischen Rat der Kirchen (weltweite Gemeinschaft der Kirchen zur Zusammenarbeit für Einheit, Gerechtigkeit und Frieden) ausgeschlossen werden. „Die Brücken müssen bestehen bleiben“, machte sie deutlich, dass der Krieg nur durch Verhandlungen beendet werden könne. „Eine Absage wäre eine Bankrotterklärung“, verteidigte sie das Treffen in Karlsruhe. Da die Delegationen in engem Kontakt zu ihren Regierungen stünden, seien auch politische Auswirkungen des Austausches zu erwarten. Ohnehin gebe es keine Alternative, denn Russland bleibe auf alle Zeit ein Nachbar. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen müsse „Frieden auf mühsamen Wegen erreicht werden“. Um die Folgen der Krisen (etwa hohe Inflationsrate und enorme Preissteigerungen) abzumildern, müsse ein „zielgenaues Entlastungsprogramm“ für Menschen mit geringeren und normalen Einkommen aufgelegt werden, denn „starke Schultern können und müssen mehr tragen“.
Die EKD-Vorsitzende ging auch auf die im kommenden Jahr 375. Wiederkehr des Westfälischen Friedens ein, der große Bedeutung für ganz Europa gehabt habe. „Mit dem Verzicht auf eine Vormachtstellung ließe sich Frieden gewinnen“, appellierte die Theologin auf eine Strategie der kleinen Schritte: „“Scheinbar kleine Anfänge“ – wie seinerzeit die Entmilitarisierung der Verhandlungsorte Münster und Osnabrück – könnten Großes bewirken. Herzlicher und langanhaltender Applaus waren der Dank der Zuhörerinnen und Zuhörer für den Vortrag, der – so Westfalen-e.V.-Vorsitzender Manfred Müller – „Orientierungshilfen aufgezeigt“ habe. Der Verein, der die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in den Regierungsbezirken Arnsberg, Detmold und Münster vertritt, hatte das anstehende Jubiläum zum Anlass genommen, das bedeutende historische Ereignis aufzugreifen und Parallelen zur aktuellen Lage aufzuzeigen.
Welche konkreten Auswirkungen Krisen – die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine – auf die Wirtschaft haben, zeigte der Unternehmer Jürgen Henke, Geschäftsführer der Metallwerke Renner in Ahlen, anschließend in seinem Beitrag auf: „Nicht der Preis entscheidet, sondern die Lieferfähigkeit“, berichtete er von Ausgabensteigerungen bei Waren und Produkten bis zu 680 Prozent. Zugleich gebe es inzwischen ein „Verlust von Fach- und Erfahrungswissen“, weil die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsprozess ausscheiden und Nachwuchs häufig fehle. „Wir sind sehr gut durch die Krisen gekommen“, bilanzierte der Unternehmer und verwies darauf, dass dieser Erfolg nur „mit gesundem Menschenverstand und einem guten Verhältnis zu den Beschäftigten“ möglich geworden sei. „Entbehrlichkeiten können entfallen, jeder kann etwas tun“, warb Henke für die Wahrung des sozialen Friedens.
In der anschließenden Aussprache bekannte Kurschus, dass sie aktuell keine Idee habe, wie dieser Krieg beendet werden könne, was aber nicht zu Hoffnungslosigkeit oder Lethargie führen dürfe. „Heimat und Freiheit sind hohe Güter“, zollte die Präses Respekt vor dem Selbstbehauptungswillen der Ukrainer, die selbst entscheiden müssten, wie sie mit dem Konflikt umgehen. „Wir müssen sie unterstützen“, lautete ihr Plädoyer.